Mal sind es Rückenschmerzen, die auf einen gebrochenen Wirbelkörper hindeuten, mal ist es der Oberschenkelhals, der bricht: Diese beiden Knochenbrüche sind typisch für Osteoporose, also krankhaften Knochenschwund.
Osteoporose ist nicht nur eine der zehn wichtigsten Volkskrankheiten nach der Weltgesundheitsorganisation WHO, sondern auch eine der häufigsten Nebenerkrankungen in der Rheumatologie. Fast jede und jeder von einer rheumatischen Erkrankung Betroffene sieht sich auch mit dem Problem Osteoporose konfrontiert.
Umfangreiche Empfehlungen
Der Dachverband der deutschsprachigen osteologischen Fachgesellschaften (der Dachverband Osteologie, kurz: DVO) gibt seit 2003 in regelmäßigen Abständen seine Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Osteoporose heraus. Darin ist jeweils das gesamte verfügbare evidenzbasierte Wissen zu diesem Thema zusammengefasst. Es ist also das Standardwerk für Ärztinnen und Ärzte, Osteoporose zu behandeln. Seit der letzten Version 2017 sind sechs Jahre vergangen, eine ungewöhnlich lange Zeit. Schon das zeigt, dass sich viel verändert hat und eine Unmenge Arbeit in dieser Leitlinie steckt. 30 Expertinnen und Experten haben sie verfasst. Sie umfasst 418 Seiten und formuliert 100 konkrete Empfehlungen.
Die Leitlinie Osteoporose ist für Patientinnen und Patienten mit rheumatischen Erkrankungen extrem wichtig – auch, um zu verstehen, wie hoch das eigene Risiko ist. Worum genau geht es? Osteoporose ist eine Erkrankung der Knochenstruktur. Dabei geht es vor allem um die Struktur des Knocheninnenraums, Spongiosa genannt. Dieser ist aus kleinen, vielfach vernetzten Bälkchen aufgebaut, die Trabekel heißen. Wenn diese Struktur zunehmend abgebaut wird, wird der Knochen porös (Osteoporose) und bricht leichter.
Der Knochenbruch (Fraktur) ist also das entscheidende Risiko und das eigentliche Problem bei der Osteoporose. Schmerzen oder andere Vorzeichen gibt es in der Regel nicht. Diese Veränderung der Spongiosastruktur kann bis heute nicht mit Mitteln der Routinediagnostik dargestellt werden. Wenn aber das eigentliche Problem, also die Osteoporose, gar nicht
nachgewiesen werden kann, muss man zumindest die Folgen verhindern, also die Knochenbrüche. Deshalb hat die Leitlinie anhand von Tausenden Studien diejenigen Eigenschaften herausanalysiert, die offensichtlich Frakturen begünstigen, die sogenannten Risikofaktoren. Dazu gehören höheres Alter und das weibliche Geschlecht genauso wie etwa eine Kortisontherapie oder eben eine rheumatische Erkrankung selbst, sei es nun rheumatoide Arthritis, Spondyloarthritis oder Lupus. Daran allein wird schon deutlich, warum
gerade Rheumapatientinnen und -patienten eine besondere Betroffenheit beim Thema Osteoporose haben.
Eine verminderte Knochendichte ist übrigens auch einer dieser Risikofaktoren, nicht aber ein direktes Diagnostikverfahren, wie oft fälschlich angenommen. Die Knochendichte, die hier gemessen wird, ist eine Eigenschaft des Materials und eben nicht identisch mit der Knochenstruktur, durch die Osteoporose definiert wird.
100 Risikofaktoren
Die neue Leitlinie hat über 100 solcher Risikofaktoren identifiziert. Sie sind aber nicht alle gleich bedeutsam, sodass man sie in stärkere und schwächere unterteilen kann. In der Praxis genügt es, die stärksten 30 Faktoren zu berücksichtigen, um eine zuverlässige Einschätzung des individuellen Risikos zu erhalten und eine Therapieentscheidung zu treffen. Zu diesen starken Risikofaktoren gehören vor allem frühere Knochenbrüche.
Je mehr es gibt und je kürzer sie zurückliegen, desto höher wird das Risiko für eine weitere Fraktur. Besonders risikoreich sind dabei Frakturen, die in den vergangenen zwölf Monaten aufgetreten sind.
Auch eine Kortisontherapie ist ein sehr schwerwiegender Risikofaktor und abhängig von der Dosis und der Dauer der Kortisontherapie. Oberhalb von 7,5 Milligramm Prednisolon pro Tag und einer Therapiedauer von drei Monaten steigt das Risiko sehr stark an. Aber auch unterhalb dieser Grenzen liegt bereits ein relevantes Risiko vor. Hohes Alter, niedrige Knochendichte, weibliches Geschlecht und entzündliche Erkrankungen, beispielsweise rheumatische Erkrankungen, gehören ebenfalls zu den starken Risikofaktoren. Beispiele für schwächere Risikofaktoren sind unter anderem ein Mangel an Vitamin D oder eine familiäre Veranlagung, also eine Osteoporose-Erkrankung bei den Eltern.
Die neue Leitlinie hat nun diese vielen Risikofaktoren mathematisch bewertet. Sie erlaubt die Berechnung des individuellen Frakturrisikos durch Analyse der bei der jeweiligen Person vorliegenden Risikofaktoren. Das hat zwar im Prinzip auch die alte Leitlinie schon getan, aber die neue ist bei der Berechnung viel präziser und differenzierter und damit korrekter.
Das individuelle Frakturrisiko wird dabei auf den Zeitraum der nächsten drei Jahre bezogen (statt früher auf zehn), ist damit also praxisnah und relevant. Die Berechnung des individuellen Frakturrisikos nach der Leitlinie ist allerdings nur möglich für Frauen und Männer über 50 Jahre. Sie wird empfohlen, wenn nach ärztlicher Einschätzung mindestens ein starker Risikofaktor vorliegt.
Zwei verschiedene Wirkmechanismen
Ist das individuelle Frakturrisiko errechnet, muss entschieden werden, ob eine medikamentöse Therapie erforderlich ist. Heute stehen zwei Gruppen von Medikamenten dafür zur Verfügung: die antiresorptiven und die osteoanabolen. Was genau bedeutet dies? Im gesunden Knochen besteht ein kontinuierlicher Umbauprozess, bei dem alter Knochen ab- und neuer aufgebaut wird. Die antiresorptiven Medikamente (Bisphosphonate und Denosumab) bremsen den Knochenabbau, verhindern also, dass Knochensubstanz resorbiert wird. Die osteoanabolen Arzneimittel wie Teriparatid oder Romosozumab stimulieren dagegen den Aufbau von Knochensubstanz.
Osteoanabole Medikamente sind im Vergleich stärker wirksam, aber deutlich teurer. Daher gibt es Abstufungen der Therapieempfehlung je nach Frakturrisiko. Liegt dieses oberhalb von drei Prozent für die nächsten drei Jahre, dann kann eine antiresorptive Therapie erwogen werden. Liegt das Frakturrisiko über fünf Prozent, dann soll eine antiresorptive Therapie durchgeführt werden, es kann aber im Einzelfall auch schon eine osteoanabole Therapie erwogen werden. Oberhalb von zehn Prozent Frakturrisiko schließlich wird dann in aller Regel eine osteoanabole Therapie erforderlich sein.
Ergänzende Zufuhr von Kalzium und Vitamin D
Die neue Leitlinie regelt aber nicht nur die medikamentöse Therapie, sondern gibt auch wissenschaftlich begründete Empfehlungen zu nicht medikamentösen Therapien und insbesondere zur Vorbeugung der Osteoporose. So ist eine ausreichende Versorgung mit Vitamin D und Kalzium unentbehrlich für die Knochengesundheit. Dabei kann in der Regel ausreichend Kalzium durch die Ernährung zugeführt werden. Der Bedarf liegt bei 1.000 Milligramm pro Tag. Vitamin D hingegen wird nicht ausreichend durch Nahrung und Sonnenlicht aufgenommen und muss praktisch immer substituiert werden. Die Empfehlungen sehen dabei 800 bis 1.000 internationale Einheiten pro Tag vor.
Von größter Bedeutung sind die Kräftigung der Muskulatur und die Verbesserung der Bewegungskoordination! Der natürliche Umbau des Knochens kann nur dann stattfinden, wenn Kräfte auf ihn wirken, sei es durch Muskelzug oder Stöße bei Bewegung. K
ein Medikament kann die Knochenstruktur verbessern, wenn überhaupt kein Umbau stattfindet, weil keine Kräfte einwirken. Wenn die Knochen allerdings schon große Schäden in ihrer Struktur haben, laufen sie sehr leicht Gefahr, schon bei geringer Belastung zu brechen. Ein individuell angepasstes Bewegungsprogramm ist daher unverzichtbarer Bestandteil jeder Osteoporosetherapie. Unter Umständen ist deshalb die fachkundige Hilfe von Physiotherapeutinnen oder Physiotherapeuten notwendig. Je schwerer die Osteoporose bereits ausgeprägt ist, desto dringender ist es geboten, Stöße und heftige Krafteinwirkungen und vor allem Stürze zu vermeiden. Deshalb gibt die Leitlinie auch dazu wertvolle Empfehlungen. Erst mit zunehmender Kräftigung der Knochen durch die kombinierte Therapie aus Bewegung, knochengesunder Ernährung und Medikamenten kann man allmählich die Belastung der Knochen wieder steigern.
In Bewegung bleiben
Bewegungsprogramme wie Medikamente greifen unterstützend und steuernd in den natürlichen Knochenumbau ein. Wesentlich beschleunigen indes können sie ihn nicht, von den osteoanabolen Medikamenten einmal abgesehen. Ein kompletter Umbau der Spongiosa dauert natürlicherweise vier bis fünf Jahre. Das ist somit auch die Zeit, die für eine Therapie insgesamt veranschlagt werden muss. Osteoanabole Medikamente könnten diesen Prozess zwar beschleunigen, sind aber aus pharmakologischen Gründen auf eine Anwendungszeit von einem (Romosozumab) beziehungsweise zwei (Teriparatid) Jahren beschränkt und müssen dann von einem antiresorptiven Medikament abgelöst werden!
Eigenverantwortung gefragt
So präzise die neue Leitlinie auch das individuelle Frakturrisiko berechnen und Therapieempfehlungen geben kann, die Umsetzung liegt in der Eigenverantwortung der Patientinnen und Patienten. Gerade die Bewegungsprogramme und die Maßnahmen zur Sturzvermeidung erfordern viel Selbstdisziplin und Mitarbeit. Das gilt auch für etwaige Änderungen der eigenen Wohnsituation, etwa das Ausräumen von Stolperfallen.
Anders als die rheumatische Entzündung spürt man die Osteoporose nicht. Genau wie die rheumatische Entzündung verursacht auch diese Erkrankung aber Schäden, die irreversibel sind. Deshalb muss hier wie da frühzeitig eingeschritten werden, um diese Schäden zu verhindern. Beide Erkrankungen gehen Hand in Hand und müssen gemeinsam im Therapiekonzept
berücksichtigt werden.
Autor: Prof. Peter M. Kern ist Internist, Rheumatologe und Osteologe sowie Direktor der Klinik für Klinische Immunologie, Rheumatologie und Osteologie am Universitätsklinikum Fulda. Er hat an der Erstellung der Leitlinie mitgearbeitet.
Dieser Text erschien zuerst in der Mitgliederzeitschrift "mobil", Ausgabe 1-2024. Sechs Mal im Jahr erhalten nur Mitglieder der Deutschen Rheuma-Liga die Zeitschrift (jetzt Mitglied werden).