Verständnis schaffen und Wege zu einer besseren Versorgung bahnen
Die Kinderrheumatologin und medizinische Expertin der Deutschen Rheuma-Liga, Prof. Kirsten Minden, behandelt Kinder und Jugendliche mit rheumatischen Erkrankungen an der Berliner Charité.
Darüber hinaus ist Prof. Minden am Deutschen Rheuma-Forschungszentrum als Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendrheumatologie tätig, wo die Versorgungsforschung den Hauptteil ihrer Arbeit ausmacht. Die 56-Jährige begrüßt die Kampagne „Rheuma ist jünger als du denkst“ und erklärt im Interview mit der Rheuma-Liga, warum.
Frau Prof. Minden, braucht es aus Ihrer Sicht eine Kampagne wie „Rheuma ist jünger als du denkst“?
Prof. Kirsten Minden: Ja. Die Kampagne „Rheuma ist jünger als du denkst“ ist notwendig, um Menschen über Rheuma zu informieren, mehr Verständnis zu schaffen und Wege zu einer besseren Versorgung und Unterstützung der Betroffenen zu bahnen. Die meisten Menschen wissen zu wenig über Rheuma. Vielen ist nicht bekannt, dass es über 200 verschiedene rheumatische Erkrankungen gibt, die Menschen in jedem Lebensalter treffen können.
Wie haben Sie die Krankheit Rheuma gesehen, bevor Sie sich als Medizinerin für die Fachrichtung Rheumatologie entschieden haben? Auch als Alte-Leute-Krankheit?
Prof. Kirsten Minden: Mit dem Thema Rheuma bin ich in meiner Ausbildung zur Kinderärztin in der Kinderklinik in Berlin-Buch erstmals konfrontiert worden. An dieser Klinik wurden schwerpunktmäßig rheumakranke Kinder und Jugendliche versorgt. Dort habe ich erfahren, dass Rheuma bereits im ersten, zweiten Lebensjahr beginnen, sich bei Kindern sehr unterschiedlich äußern und komplexe Folgen nach sich ziehen kann. Durch die Arbeit dort habe ich Rheuma von Anfang an als eine Erkrankung kennengelernt, die jeden, auch Kinder, treffen kann.
Wie erleben Sie, wie Rheuma in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird?
Prof. Minden: Als Kinderrheumatologin ist mir bewusst, dass Rheuma insbesondere bei Kindern und Jugendlichen leider kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert ist. Für die Leukämie sieht das zum Beispiel ganz anders aus. Die meisten wissen, dass diese bereits bei Kindern auftreten kann. Dabei erkranken an einer Leukämie jedes Jahr in Deutschland nur halb so viele Kinder wie an Gelenkrheuma. Gelenkrheuma, die juvenile idiopathische Arthritis, gehört neben Asthma und Diabetes zu den häufigsten chronischen Erkrankungen des Kindesalters. Jedes 1000. Kind ist hierzulande davon betroffen.
Kann Forschung helfen – und wenn ja, wie –, das vorherrschende Bild von Rheuma als „Alte-Leute-Krankheit“ zu durchbrechen?
Prof. Minden: Ich bin überzeugt, dass Forschung dazu beitragen kann. Je mehr Erkenntnisse über Rheuma, zum Beispiel bei Kindern und Jugendlichen, gewonnen und öffentlich diskutiert werden, desto schneller wird sich das Bild des „Rheumatikers“ ändern. Ein Beispiel hierfür sind die immer zahlreicheren, neu beschriebenen und in den letzten Jahren der Öffentlichkeit bekannt gemachten rheumatischen Krankheitsbilder, die Dank der sich rasant entwickelnden Möglichkeiten in der genetischen Diagnostik entdeckt wurden. Diese Erkrankungen, denen angeborene Störungen im Immunsystem zugrunde liegen und die mit spontanen Entzündungen („Autoinflammation“) einhergehen, treten klassischerweise sehr früh im Leben auf. Diese Erkrankungen haben das Bild von Rheuma, nicht nur, was das Alter der Betroffenen, sondern auch die Art des Rheumas betrifft, selbst bei Rheumatologen verändert.
Was heißt „Rheuma haben“ gerade für junge Menschen eigentlich?
Prof. Minden: Für junge wie für ältere Menschen bedeutet Rheuma, sich mit Schmerzen und körperlichen Einschränkungen auseinandersetzen zu müssen, normale Dinge nicht selbstverständlich tun zu können und den Alltag mit Therapieanwendungen und Arztkonsultationen organisieren zu müssen. Aber Rheuma zu haben ist nicht mehr das gleiche wie vor 30 Jahren. Inzwischen können wir jungen Rheumatikern sehr effektive medikamentöse Therapien anbieten, mit denen die rheumatische Entzündung komplett unterdrückt werden kann. So kann den meisten Betroffenen heute ein weitgehend normales Leben ermöglicht werden.
Wie wichtig ist eine frühe Diagnose einer rheumatischen Erkrankung in diesem Zusammenhang?
Prof. Minden: Eine frühe Diagnose und damit auch Therapie sind für den Verlauf der Erkrankung entscheidend. Neue Forschungsdaten zeigen, dass das Therapieansprechen umso besser und das Erreichen einer Remission (Stillstand der Erkrankung) umso wahrscheinlicher ist, je früher mit der Therapie begonnen wird. Als Grund hierfür nimmt man an, dass ein frühes Krankheitsstadium mit Medikamenten besser beeinflussbar ist als ein spätes und frühe Entzündungsprozesse noch komplett rückbildungsfähig sind. Leider kommen aber viele Kinder mit Rheuma noch zu spät zum Spezialisten. Anstatt der angestrebten sechs Wochen vergehen heute im Durchschnitt noch vier Monate vom Symptombeginn bis zur Erstvorstellung beim Kinderrheumatologen. Wertvolle Zeit, die für die Behandlung genutzt werden könnte, geht dadurch verloren.
Wie unterschiedlich sind die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Rheuma und Erwachsenen mit Rheuma?
Prof. Minden: Kleinkinder brauchen Bewegung, um sich altersgerecht entwickeln zu können. Schulkinder wollen mithalten können, Jugendliche wollen dazugehören, von ihren Alterskameraden akzeptiert werden und suchen ihren Weg in die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Junge Erwachsene werden beruflich aktiv und planen oder haben bereits eine Familie. In jeder Lebensphase gibt es spezielle Bedürfnisse, die auch in der Versorgung zu berücksichtigen sind. Rheuma bringt altersunabhängig für jeden Betroffenen eine erhebliche Mehrbelastung mit sich.
Was ist beim Übergang von der Kinder- in die Erwachsenenrheumatologie von besonderer Bedeutung? Noch gibt es viele Therapieabbrüche in der Transitionsphase…
Prof. Minden: Noch klappt der Übergang vom Kinder- zum Erwachsenenrheumatologen nicht regelhaft. 30 bis 50 Prozent der Patienten brechen nach Verlassen der Kinderrheumatologie zeitweise die fachspezifische Versorgung ab. Damit der Übergang besser gelingt, braucht es eine gute Vorbereitung auf den Betreuungswechsel und Übermittlung aller Fakten zur Erkrankung durch den Kinderrheumatologen. Von Seiten der Erwachsenenrheumatologen braucht es Kenntnisse der Besonderheiten der juvenilen Krankheitsbilder und die Bereitschaft, sich mit den besonderen Herausforderungen der Betreuung junger Erwachsener, auch psychosozialen Problemen, auseinanderzusetzen.
Aus Sicht der Medizinerin: Was muss sich ändern, damit Transition künftig besser gelingt?
Prof. Minden: Wir brauchen eine offizielle Anerkennung der besonderen Betreuungsbedürfnisse junger Menschen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren, die eine entsprechende Vergütung des Mehraufwandes und die Schaffung entsprechender Strukturen für die Transition einschließt. Transition muss zu einer Regelleistung werden. Das wird seit Jahren, unter anderem von der Gesellschaft für Transitionsmedizin gefordert. Umgesetzt ist es bislang nicht.
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